Georg Toepfer
Organismus und Kultur. Begriffliche Grundlagen und Grenzen der Biologie
Programmförderung des ZfL durch das BMBF 2012–2013

Der Begriff des Organismus ist seit Konstitution der Biologie als Wissenschaft vor gut 200 Jahren eines der zentralen Konzepte dieser Disziplin – und zugleich ein Begriff, der über die disziplinären Grenzen der Biologie hinausweist. Gegenwärtig erlebt er eine Konjunktur, die sich aus dem Ende der genzentrierten Paradigmen und dem korrespondierenden Aufstieg der Systembiologie und Synthetischen Biologie ergibt. Die systemtheoretische Grundlage des Begriffs ermöglicht es, ein gleichzeitig komplexes und integriertes Bild der biologischen Gegenstände zu zeichnen, in das ebenso morphologische und physiologische wie genetische und epigenetische Perspektiven einfließen können.

In dem Projekt wurden die zentrale Stellung und aktuelle Konjunktur des Organismusbegriffs in der Biologie sowie dessen außerbiologische Bezüge untersucht. Als Ausgangsbefund war dabei bemerkenswert, dass der Begriff trotz seiner großen Strahlkraft in andere Bereiche, etwa in die Sprach- oder Sozialwissenschaften, den Status eines Kennworts der Biologie bis in die Gegenwart behalten hat. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen Fragen nach einerseits der integrierenden Funktion des Organismusbegriffs in der Biologie und andererseits der Rolle des Begriffs im Verhältnis zu anderen Wissenschaften. In Kooperation mit einer Kollegin von der Humboldt-Universität wurde dazu eine internationale Tagung mit renommierten Referenten durchgeführt, die sich in historischen und wissenschaftstheoretischen Analysen mit der Rolle des Begriffs in der Biologie und in interdisziplinären Kontexten auseinandersetzten. Herausgearbeitet wurde dabei einerseits der spezifisch neuzeitliche Hintergrund des Begriffs (über den ältere Autoren trotz ähnlich lautender Ausdrücke noch nicht verfügten) und seine besondere Konjunktur in der Gegenwart im Kontext von Epigenetik und Systembiologie. In eigenen Aufsätzen wurde die zentrale Rolle des Organismusbegriffs für die Biologie an seiner systemtheoretischen Perspektive festgemacht, die die interne Teleologie eines ganzheitlichen Gefüges betont. Inwiefern die wissenschaftliche Beschreibung des Menschen die biologische Perspektivierung als Organismus überschreitet, wurde in mehreren Aufsätzen und Vorträgen zur Anthropologie und zum Tier-Mensch-Vergleich untersucht.

Im Kontext des Projekts zu den Kulturellen Faktoren der Vererbung wurde anhand der Epigenetik herausgearbeitet, wie komplexe Entwicklungsprozesse in der Einheit des Organismus zusammenlaufen und diesen konstituieren, wie aber umgekehrt die Dynamik der Entwicklungsperspektive vom Organismusbegriff, der ein sich erhaltendes und regulierendes System bezeichnet, nicht vollständig eingeholt werden kann. In Workshops des interdisziplinären Forums SynergieWissen wurde das Verhältnis des Organismusbegriffs zu den Konzepten der Komplexität, Innovation, Symbiose und Emergenz näher untersucht. Wichtige Impulse für das Projekt gingen von Arbeitstreffen der interdisziplinären Projektgruppe Synthetische Biologie der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler aus. Im Zusammenhang mit den rasant voranschreitenden technischen Möglichkeiten der Herstellung künstlicher Lebewesen sowie den damit verbundenen ethischen, legalen und sozialen Aspekten zeigte sich die aktuelle Brisanz der begrifflichen Forschungen zu »Organismus« und »Leben«. Die Auseinandersetzung mit der vieldimensionalen Problematik der Erzeugung künstlicher Lebewesen mündete in gemeinsam mit Sozial-, Rechts- und Naturwissenschaftlern verfasste Aufsätze; diese enthalten auch Vorschläge zur begrifflichen Klassifikation und rechtlichen Behandlung der neuen, zwischen Natur und Technik angesiedelten Organismen.

Schließlich war es auch Teil des Projekts, den Begriff des Organismus in langfristiger begriffsgeschichtlicher und weiträumiger kulturvergleichender Perspektive zu untersuchen. Die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen mündeten dabei unter anderem in eine umfangreiche Online-Datenbank zur Geschichte und Theorie biologischer Grundbegriffe, die den Ursprung der Wortprägung und die wechselnden Bedeutungen von vielen Wörtern aus dem Umkreis von ›Organismus‹ genau dokumentiert (www.biological-concepts.com). Die kulturvergleichende Perspektive wurde in einem Workshop zur kulturübergreifenden Begriffsgeschichte zwischen Asien und Europa eingenommen, bei dem ein Schwerpunkt auf den um »Leben« zentrierten Konzepten lag.
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